Ingenieure bauen die Schweiz, Band 1
Buchbesprechung von Fritz Staudacher
Es ist ein gewichtiges Buch, das da im neuen Jahr daher kommt. Nicht so sehr deshalb, weil es gute eineinhalb Kilogramm auf die Waage bringt und mit seinen über fünfhundert Seiten satt in der Hand liegt – das liesse sich mit dem Kindle in der eBook-Version leicht wegdrücken. Sondern dieses Buch ist deshalb schwerwiegend, weil ein halbes Hundert Ingenieure dieses Werk gemeinsam verfasst hat. Wer sich interessiert, was Ingenieure so alles machen, findet hier ein bis anhin selten gesehenes Spektrum.
Es liegt weder am physischen Gewicht eines Buches, noch an der schieren Anzahl fünfzig, die das im Verlag der Neuen Zürcher Zeitung erschienene Werk gewichtig machen. Es liegt an der Homogenität und der gleichzeitigen Heterogenität dieser Autoren. Homogenität deshalb, weil sie mehrheitlich Ingenieure sind, die vor der Erlangung dieser Berufsbezeichnung eine anspruchsvolle wissenschaftlich-technische Ausbildung absolviert haben – aber nicht nur das, sondern in diesem Falle auch, dass sie in ihrem Beruf erfolgreich waren. Heterogenität der fünfzig Autoren, weil sie ihre Ingenieurskunst in mehr als fünfzig verschiedenen Unternehmen, Aufgaben, Branchen und Ländern zur Anwendung brachten und noch immer bringen. Und nun in der gesamten Breite von dieser Lebens- und Berufserfahrung berichten: an konkreten Beispielen und aus der realen Wirtschaft.
Dafür war es auch höchste Zeit, muss man schon nach der Lektüre weniger Seiten sagen. Haben sich nicht im Verlaufe der letzten Jahrzehnte die Vertreter einer anderen, sich plötzlich als "Finanzindustrie" bezeichnenden Branche in der breiteren Öffentlichkeit als die angeblich wahren Leistungsträger und Finanzingenieure etabliert? Vielleicht angefangen mit Werner K. Rey, der das Bally-Konglomerat so zerlegte und aushöhlte, dass als Substanz vor allem der Markenname erhalten blieb. Dieser "Fall" ist allgemein bekannt – nicht jedoch zahlreiche Fehlentwicklungen, die es innerhalb grosser Unternehmen gab. Der mit den Begriffen "Wertschöpfung" und "Effizienz" in die Berufswelt entlassene Ingenieur hatte bei Übernahmen, Fusionen und Aktienkursen mehr und mehr Mühe, solchen fiktiven Bewertungen Nachhaltigkeit zuzugestehen. Zunehmend etablierte sich diese Mentalität auch in der Öffentlichkeit: der Finanzplatz Schweiz wurde zur Heiligen Kuh, der Werkplatz Schweiz zum notwendigen Übel. Es sah ganz so aus, als habe die Fiktion die Realität überholt. Als ersetze die simple Isolierung und einseitige Finanzfokussierung die einvernehmlichen Prozesse gemeinsamer Leistungsoptimierung.
Da ist es gut, ab jetzt ein in der Realität verhaftetes Buch zur Hand zu haben, das aus der Industrie und von realen Wirtschaftsunternehmen berichtet. Etwa über den faszinierenden Schweizer Brückenbau, der sogar über die Golden Gate Bridge in San Francisco führt, über die leistungsfähigsten Schiffsmotoren auf den Weltmeeren, über die Ästhetik der Technik im Rotationsmaschinenbau, über die Eroberung der Lüfte mit Strahltriebwerken und Strahltriebflugzeugen, über neue bahnbrechende Schienenfahrzeuge oder über die verfrühte Aufgabe einer Führungsposition bei Flüssigkristallanzeigen – kurz: Tops und Flops, bei denen Unternehmen und Ingenieure vielfach in das Fahrwasser kurzfristig orientierter Financiers gerieten. Dass die Schweizer Ingenieure all dies gar nicht so schlecht gemacht haben, bestätigt ihnen am Schluss des Buches ein Ökonom und ehemaliger Gewerkschaftsfunktionär. Beat Kappeler schreibt: "Im Gegensatz zu grossen Teilen West- und Südeuropas hat der Einsatz an Arbeit, an Gründungen, an Ingenieurwissen den Erfolg gebracht." Und warum das so kam, erfährt man authentisch in diesem Buch.
Von Betschon über Hess zu Suter und Erni |
[Veröffentlicht: März 2013]
Band 1 erschien 2013, Band 2 wurde 2014 zusammen mit einer erweiterten und überarbeiteten Auflage des ersten Bandes herausgegeben. Band 1 + 2 im Set (vergünstigt) ISBN 978-3-03823-925-3 |
Die Rolle der Industriephysiker Ein Blick auf die Liste der Koautoren dieses Ingenieurbuches zeigt, dass etwa 20% der beitragenden Experten Physiker sind. Da im vorliegenden Buch der Fokus mehr auf den ingenieurmässig klassisch eingestuften Industrien des Maschinenbaus, der Optik, der Feinmechanik, etc. liegt, mag der relativ hohe Physikeranteil zunächst überraschen. Man kennt ihn mehr aus Branchen wie der Medizinaltechnik, die ihren Kulminationspunkt noch vor sich haben und im Buch nicht behandelt sind. Der hohe Physikeranteil bei den Autoren zeigt also, dass auch in den "traditionellen" Industrien die Produkt- und Prozessinnovation einen wichtigen Stellenwert hat und experimentelle, theoretische und numerische Physiker gebraucht werden. Aber Physiker werden in Zukunft vermehrt auch in der Produktion eingesetzt werden, da moderne Herstellkonzepte der "Production on demand" und der "Massproduction with batchsize one" neuartige Ansätze erfordern, bei denen unter anderem das werdende Produkt mit den Fertigungswerkzeugen physikalisch wechselwirkt. Das vorliegende Buch ist also nicht nur für Physiker aus allen Industriebereichen lesenswert, sondern auch für Physikstudenten. Bernhard Braunecker |