Jost Bürgi, Kepler und der Kaiser
Buchbesprechung von Bernhard Braunecker
Wer selbst nicht mehr mit Logarithmen und Rechenschieber gerechnet hat, kennt ihn wahrscheinlich nicht. Wer sich nicht intensiv mit Johannes Keplers Neuer Astronomie am Kaiserhof in Prag auseinander gesetzt hat, dem ist er kaum ein Begriff. Und wer sich nicht so sehr für Himmelsgloben und Renaissanceuhren interessiert, hat wahrscheinlich nie von ihm gehört: dem Universalgenie Jost Bürgi (1552–1632). Wer allerdings unsere SPG Mitteilungen regelmässig liest und wer auf unserer SPG-Homepage schon einmal unter der Rubrik "Anekdoten" gesurft ist, der weiss, dass dieser Toggenburger es war, der die Frühe Neuzeit zum Ticken brachte. Fritz Staudacher, der Autor unserer Beiträge über Jost Bürgi, hat soeben im Verlag NZZ Libro ein Buch veröffentlicht, das all diese Facetten Jost Bürgis erstmals gleichzeitig zum Glänzen bringt: den Instrumentenbauer (Proportionalzirkel, Triangulationsgerät, Metallsextant) ebenso wie den Uhrenkonstrukteur (erste Sekundenuhr, kleinster und präzisester Himmelsglobus) sowie den gewieften Mathematiker (Prosthaphärese, Logarithmen, algebraische Geometrie) und den unermüdlichen Himmelsbeobachter Jost Bürgi, von dem Johannes Kepler in einem bis anhin nicht bekannten Ausmass profitierte.
Der Autor stellt Jost Bürgi in seine Zeit und beschreibt die damals wichtigen Parameter der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Situation im Vorfeld des Dreissigjährigen Krieges. Als dieser 1618 mit dem zweiten Fenstersturz in Prag auf dem Hradschin beginnt, erfolgt dies in unmittelbarer Nähe zu Bürgis Werkstatt. Indem er in Prag von 1603 bis 1630 drei Kaisern als Kammeruhrmacher dient und im selben Haus wie der alchemistenfreundliche Kaiser Rudolf II. und der Bildhauer Adriaen de Vries seine Werkstatt hat, lebt und arbeitet er als Schweizer im Machtzentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. So bietet diese erste umfassende Biographie Jost Bürgis eine Vielfalt an Informationen aus der Frühen Neuzeit, illustriert mit 245 ausgezeichneten Bildern. Wer für sich für die Technik-, Mathematik- und Astronomie-Geschichte interessiert, findet hier eine Vielfalt an Beispielen. Und wer gleichzeitig ein schönes Weihnachtsgeschenk sucht, kommt hier in den Genuss eines graphisch beeindruckenden Prachtbandes.
Seit Januar 2016 liegt die dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage dieser Biografie vor. Mit nunmehr 304 Seiten beschreibt sie auf zehn Seiten Jost Bürgis neu entdeckten mathematischen Kunstweg und enthält farbige Abbildungen von Bürgis Artificium. Dabei handelt es sich um eine elementare algebraische Berechnung von Sinuswerten mit beliebiger Genauigkeit mittels einer sehr einfachen Näherungslösung. Gleichzeitig erfindet Bürgi damit die Differenzenrechnung und eine neue Methode zur Tabellierung mittels Polynomen, die bisher Briggs und Babbage zugeschrieben worden waren.
Tres faciunt collegium: Kepler, Brahe und Jost Bürgi. In dieser Biografie Jost Bürgis schildert Staudacher auch die Zusammenarbeit der drei Astronomen Johannes Kepler, Tycho Brahe und Jost Bürgi, die sich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort trafen: Kepler, der Visionär, Theoretiker, Vordenker; Brahe, der Experimentator, Organisator, Geldbeschaffer, und Bürgi, der Entwickler neuartiger Präzisionsinstrumente und praxisgerechter Rechenalgorithmen. Ihrem historischen Zusammentreffen im Jahre 1600 in Prag ist zu verdanken, dass Kepler seine Theorie mittels Bürgischer Rechenmethoden in effizienter Weise an Tychos umfangreicher, sich über mehrere Dekaden erstreckender Datensammlung verifizieren konnte. Dabei waren die Voraussetzungen gar nicht so günstig, denn "Johannes Kepler sieht schlecht, Tycho Brahe rechnet nicht gerne, Jost Bürgi fällt das Schreiben schwer". Da aber "Kepler ein aussergewöhnlicher Mathematiker, Brahe ein unermüdlicher Himmelsbeobachter und Bürgi ein alle mathematisch-technischen Funktionen integrierendes Universalgenie" ist, revolutioniert dieses europäische Dreigestirn eines deutschen Mathematikers, eines dänischen Astronomen und eines schweizerischen Uhrenmachers die Kenntnisse über unsere Welt. |
Der Artikel Der Erfinder der Sekunde von Katharina Baumann über das Phänomen ‚Zeit’ erschien in der Sonntagszeitung Ostschweiz am Sonntag am 27. Oktober 2013 auf den Hauptseiten 2 und 3 anlässlich der Umstellung auf die Winterzeit. |
[Veröffentlicht: November 2013, aktualisiert: April 2017]